Andrea Tippel

Phantome 1980

Die großen Phantome und die Häuser der Gegenwart. Text zu sechs Zeichnungen

Zuerst erschienen in: Ausgabe, Nr. 7/1983, hrsg. von Armin Hundertmark. Edition Hundertmark: Berlin/Köln, S. 43–48 (deutsch); und in: ARC/Musee d’Art Moderne de la Ville de Paris (Hrsg.): Art Allemagne aujourd’hui. Différents aspects de l’art actuel en Républic Fédérale d’Allemagne. SMI, Paris, 1981, S. 233–234 (französisch)

„auf der brücke zwischen ka und schauer traf ich herrn gewidmet. ich fragte, wie es ihm gehe. er war sehr gedankenverloren und antwortete: die gegenwart geteilt durch zwei ist die gesamtheit aller zeit.; und zog den hut.“

ich verstand ihn nicht. wenig später verstand ich, dass es naturerscheinungen gibt, die ur-abbilder sind und nicht ur-vorbilder. die also abbild des vorbilds zum vorbild des abbilds sind. ich nenne sie die grossen phantome.

die zeit

allen voran ist die sonne ein solches phantom. man weiss, dass sie nicht dort ist, wo wir sie sehen, sondern immer schon ein wenig höher, ein wenig tiefer usw., weil das licht zeit braucht um zur erde zu kommen. wir sehen ihre vergangenheit.

die ewige gegenwart

den horizont nenne ich seit einiger zeit den star unter den phantomen. er, anders als die sonne, ist nicht einmal dort, wo wir ihn sehen. es ist besser, gleich zu sagen, dass es ihn nicht gibt, obwohl genügend zeugnisse seiner existenz da sind und die welt voll ist mit horizonten aller nur erdenklichen ausmasse.

die ruhe der vergangenheit

die versteinerungen sind komplexere phantome. zugleich einfacher und schwieriger als die monolithischen phantome sonne und horizont. einfacher weil begrenzter, schwieriger weil vielfältiger. es gibt ihre positiv- und ihre negativform; ihre invertierte und ihre metamorphische veränderung. sie sind sichtbare tote zeugnisse einer unsichtbaren lebenden welt.

der widerspruch

auf einer weiteren ebene ist natürlich der schatten ein phantom die vollkommenheit und, anders, die spiegelung im wasser die struktur der utopie und wieder anders die spiegelung in der luft: die fata morgana. die kimmung.

das leben

dann lernte ich die raupe kennen, deren kleines gesicht unscheinbar in der mitte einer riesigen bunten maske verborgen liegt. sie hält sie der erde zugekehrt und in gefahr reisst sie sie hoch, um den angreifer sowohl durch die farbliche als auch durch die dimensionale verfremdung in der einschätzung seines opfers zu verwirren.

die psyche

die weiden sind berühmt für ihre kraft, durch optische täuschung als wesen zu erscheinen, vor denen der mensch sich erschreckt. sie wurden zu den grossen phantomen gezählt, weil sie eine weitere ebene des vorbilds zum abbild verdeutlichen.

die haut

zuletzt die netzhaut. sie ist einerseits das komplizierteste phantom weil sie der ausgang aller betrachtungen ist und andererseits das spielerisch einfachste weil sie die dinge' auf dem kopf stehend behandelt.

später reihte sich, dank der episode auf der brücke zwischen ka und schauer, die gegenwart als über jede konkurrenz erhabener star unter den phantomen in die reihe der phantome ein. sie, die als einzige ein rein mentales phantom ist, bekam fünf eigene häuser.

die neun visuellen mussten zusammen mit einem haus vorlieb nehmen. darin bekam jedes einen gleich großen raum zugeteilt, um sich dann in einer landschaft wieder zu versammeln – der friedlichen welt der visuellen phantome.

weit schwieriger ist der umgang mit den fünf häusern der gegenwart weil sie auch die häuser der ahnung von bedeutung sind. sie entkommen der welt in der das nicht abbildbare durch stete neuordnung abbildbar wird. aus ihr erscheint der gespaltene horizont. und wenn man will, ruht in seinem spalt die gesamtheit des nicht. durch diesen spalt geht die gegenwart in anwesenheit über. das ist das erste haus der gegenwart.

eigenständige, natürliche und kultivierte gegenstände zu einer neuen wirklichkeit zusammenzufügen nenne ich objektebauen. die objekte verharren in ihrem gefügten zustand und strahlen die agressive ruhe des elektrischen lichts aus. vorübergehender findet dieser vorgang in „der augenblick des sommers“ statt, der das zweite haus der gegenwart ist. er ist stellvertreter all dessen, was sich alltäglich auf unendlich viele weise bindet, löst und wieder bindet und nicht wahrgenommen wird, weil es von ‚überflüssiger' wirklichkeit ist. wenn sich ein vogelschwarm auf einem winterkahlen baum niederlässt, sind vögel blätter, ist ein kahler baum ein belaubter, ist winter sommer.

das dritte haus der gegenwart, „der moment des k. oder: wie man sich vom anblick des meeres löst.“, geht auf den anfang meiner freundschaft mit dem buchstaben k zurück. er entdeckte mir, dass er auch in dem moment entstanden sei, als ein vogel sich auf das phantom horizont setzte. ich nenne ihn deshalb das erste halbphantom, was seinem mysterium als buchstabe gerecht wird.

das vierte haus der gegenwart ist fast leer. es ist das haus von anwesender abwesenheit: „ach ja die gegenwart, ich erinnere mich.“ das wirkliche eins-auf-einem schliesst nicht aus, dass, sitzt man auf einem stuhl, man auf allen stühlen sitzt, also auch zwischen zweien. so nimmt jede äusserung beharrlich zeit nach zeit und raum nach raum und das kann schmerzvoll sein. die zeichnungen haben einen schönen schein von hoher gleichzeitigkeit.

im fünften haus der gegenwart sitzt das phantom horizont in meinem sessel: „die gegenwart als anwesenheit verkleidet.“

paris/ berlin 1980