Andrea Tippel

Haushaltsschriften 1995

Zu den Haushaltsschriften

Zuerst erschienen in: Tippel, Andrea (Hrsg.): Haushaltsschriften – Maria-Alexandra Mahlberg-Tippel. Roths' Verlag: Basel und Selbstverlag A. Tippel: Berlin, 1995

Die langjährige Verwandlung von Vorderseiten in Rückseiten und vice versa durch kontinuierliches Wenden und Teilen und die damit geschaffene klare Zurechtweisung des aus allen Bereichen von außen auf den Hierlebenden Einstürmenden, Lauten, Unbestimmten auf die Position der Rückseite zum Innern, Stillen, Angemessenen, das entschiedene Wählen, Behandeln und Umwerten an der Schwelle der Sphären oder die seltsame Fähigkeit, bestimmte und längst vergangene Wochen sichtbar und in-der-Hand-haltbar gemacht zu haben, sie als Metrum 228 mal aus dem komplexen Fluß der verschiedenen Intervalle von Namens- und Datenkombinationen und -folgen, aus den Buchstaben- und Zahlensystemen, mit denen wir Zeit machen, stofflich rausgehoben und damit haltbar gemacht zu haben oder auch die verlorengegangene Selbstverständlichkeit, mit der sich (man muß sagen) Eßwaren als Notwendigkeit des Körpers und Rausch-/Suchtmittel als Notwendigkeit des Geistes, die allen Zeiten und Kulturen auf unzählig differenzierte Weise eigene innere Herausforderung, ergänzend gegenüberstehen, deren unterschiedliche Rhythmen im Metrum, Vielfalt und Dichte der ihnen zugeordneten Wörter und Zahlen, Amplituden im Geld usw. oder nur das Staunen über solch ein 10jähriges, wahrscheinlich aber mehr als 20jähriges Kontinuum, dessen Ursprung Zweck gewesen sein wird, das aber mit abnehmender Nötigkeit nicht etwa aufgegeben wurde, sondern im Gegenteil immer mehr verdichtet und das sich in den letzten 6 Jahren, dem Teil, der hier veröffentlicht ist, mit zunehmender Klarheit und Strenge der Kalligrafie in rituellen Gründen bewegt, in die nur noch die geschätzte Ahnung von Bedeutung folgen kann oder die Schönheit eines alten Werks am Ende des 20. Jahrhunderts, das sich konsequent der sinntragenden Linearkausalität der Sprache entzieht, das rein aus der syntaxlosen Welt der Aufzählungen, der adjektivlosen der Namen aufgebaut wurde, vorsprachlich, das ebenso zeichnerische wie schriftliche Auslegung ist und in dem die Wörter und die Zahlen gleichberechtigt sind oder das Dokument des Zwangs zur Einverleibung, um Leben überhaupt halten zu können, die Skripte zeigen gewaltig und einfach die Sisyphos-Lage des Menschen und seine Zersplitterung im täglichen Bedürfen zwischen Beschaffen und Verbrauchen und Rein und Raus, die Monotonie der ständigen Verpflichtung, die kurzwegigste Vergänglichkeit zu bedienen (von Werden und Vergehen, Pflanzen und Reifen, Aufziehen und Töten usw., von Prozessen und Gefährdung, von Geschichte und Geschichten, nicht nur der Lebensmittel, weiß man in dieser apollinischen Zivilisation nichts mehr), um Vergängliches zu erhalten, denn von den Tausenden von genannten Dingen, mit wenigen Ausnahmen, ist sozusagen nichts mehr da und auch die Nennende lebt nicht mehr und die furchtbare, vorerst unumgängliche Koppelung des Unausweichlichen an das Geld, ein Dokument aus der Geld-Zeit des Menschen, deren fernes Ende sich ja ankündigt und nicht der mögliche dokumentarische Wert im heutigen gesellschaftswissenschaftlichen Kontext hätten mich dazu veranlassen können, diese Schriften, die ich 1992 aus dem Nachlaß meiner Mutter nahm, zu publizieren, aber mein eigentlicher Grund liegt auf einem anderen Grad (und Grat):

Ich denke, daß die in dieser Schachtel versammelten, „Haushaltsschriften“ genannten (im weiteren H. abgekürzten) Texte ein – wenn auch nur 6jähriger – Ausschnitt aus der jahrhundertealten Matrix des mitteleuropäisch-städtischen Lebens sind und mit Leben meine ich die Urvoraussetzung aller Aktivitäten (hier des Menschen): die Aufrechterhaltung des Körpers (und des Geistes) durch die Ernährung. Vermutlich funktioniert das urbane Leben weltweit vergleichbar, doch möchte' ich mich auf mir Bekanntes beschränken und gleichzeitig spekulieren, daß die große Nähe der H. zum reinen Schema nur hier und am jetzigen Ende der langen Entwicklungskette städtischer Organisation s o entstehen konnte und diese gleich hinter ihnen erkennbare schematische Struktur läßt die H. eine Ausprägung der allgemein und fortwährend akuten Grundformel sein, die sie damit darstellen. So ist in den H. also nicht ein Gran Absicht, Mitteilung oder Ähnliches und keine Fantasie, ein seltener Umstand bei Texten.

Erst ihre Publikation bringt nicht etwa Absicht in sie, das könnte sie nicht, sondern umfängt sie mit Absicht. Sie selbst sind bereits ihre eigene Erfüllung oder gar Erledigung, deren a priori allerdings grundlegend in jedem einzelnen städtisch lebenden Menschen notwendig und ganz vorhanden ist und damit sind die H. ein gemeinsames abstraktes Ingredienz, das sich aus jedem noch so verschiedenen Lebensgefüge herauslösen läßt und das jedermann als conditio sine qua non eben nicht betrifft, sondern ist und es daher, zumindest in den Städten, Niemanden mehr geben können dürfte, in dessen Händen sie deplaziert sein könnten ...

Und das – so dachte ich – ist doch das Fantastische an der allerernsthaftesten Tatsächlichkeit.

August 1995