Andrea Tippel

Bibliothek 2000

seit einiger zeit denk ich oft an die BIBLIOTHEK DES ANGEFANGENEN.

Zuerst veröffentlicht in: Voss, Jan u.a. (Hrsg.): Dieter Roth Academy. Til Daemis and whatsoe'er. 2. DRA Konferenz und Ausstellung. Dieter Roth Verlag/ Boekie Woekie: Mosfellsbær/ Basel/Amsterdam, 2001

ich kenne sie nicht, habe sie selbst nie gesehen, auch kein foto von ihr, mit dieter nicht über sie gesprochen, ich weiss eigentlich gar nicht was sie ist. aber ich weiss seit langem, dass es sie gibt, und: ich kenne ihren namen.

es handelt sich um werk, um werke.

sie war eine der vielen bausteine in dieters immensem gefüge den ich eines tages sehen würde und ich liess den gedanken an sie wartend ruhen.

aber seit einiger zeit dämmert mir mit ihrem namen etwas seltsam ungeahntes auf, so als stünde ich mit ihm auf einer schwelle.

aus den unzähligen sätzen um mich rum taucht immer öfter das wort „scheitern“ auf. ich hielt es für ein eher ruhendes wort, aber seine häufigkeit deutet auf wandlung hin. vielleicht will es sich aus seiner selbstquälerischen christlichen tradition befreien oder vom brackigen nimbus des tragischen – wer weiss. doch die richtung, in die es sich verwandelt, scheint keine andere, sondern vielleicht nur eine ein wenig bessere zu sein, als romantisch heroische attraktion ein wenig gelöster. aber das wesentliche ändert sich dadurch nicht und die darauf sitzenden wörter „fragment“, „unvollendet“, „misslingen“, „versagen“ fahren fort, dazu zu zwingen, von hinten zu betrachten.

das, was vorne da ist – weil die schönere, weil grössere kraft am tisch gesessen hat – von hinten her zu werten, von da her, wo nicht ist, was hätte sein sollen; also zu einem fall des mangels zu machen oder in ein bedingungslicht zu tauchen, in dem ihm sein unbedingtes dasein abgestritten wird.

wie aber zäumt man ein pferd ohne hinterleib von hinten auf?

die völlig ungewöhnliche aufmerksamkeit, die dieter dem gewöhnlichen geschenkt hat, hat das längst auffliegen lassen: das ende ist vorne und hinten der anfang, weils tatsächlich, auch, so ist.

räumlich-zeitliche sprünge in ihren gleichzeitigkeiten gehören zur ureigen natürlichen beweglichkeit. und scheitern, als das mörderische gebot zum ende, zum abschluss zu kommen gibt es dann nicht mehr, denn aus dieser perspektive löst die chose ihre verneinung von sich ab und löst sie so völlig von sich ab, dass man schaudernd nach einem ende ausschau hält – aber es ist weit und breit keines mehr zu sehen.

das sind echte umwertungen – und das geht sehr weit.

in der marseiller ausstellung lagen die werkzeuge in grosser ruhiger ordnung vielfältig beieinander und was zu sehen war war, dass sie mit zwei zuständen unauflöslich gleichzeitig getränkt waren: getanem und zutuendem. mit tat getränktes ruhen, es gibt wohl kein anderes. jedes sogenannte ende wird sicher als anfang sichtbar und das angefangene ist die qualität selbst „NACH VORN MUSS DAS LEBEN OFFEN STEH'N (......)“.

aus den VOLÄUFIGEN LISTEN lächelt einen die beute auf beglückende weise unabwendbar konstitutiv an. grandiose liebe zum vorhandenen und getanen, und wer was wie warum sonst noch von einem (angefangenen) verlangt, das ist eine domäne der traurigkeiten und verzweiflungen – und dann doch hekuba.

erlösung allerersten ranges – aber alles würde anders. das kommt aus dieters filigraner menschlichkeit und aus seiner unauslotbaren hellsicht. überall anschluss ans unwegsame und unnennbare, das ist sein realismus und mit den wesen der natur selbst den letzten rest naturalismus ausgekehrt. aber mit den hundestücken aus cadaques schon und im antipawlow im wiener secessionskatalog hat er den gewissensspielraum, in dem die insekten und auch andere frei hausen und fliegen, deutlich eingefriedet.

gesetzt den fall, kunst wäre traditionell dominant physikalisch und es gilt ja, die chemischen prozesse so weit wie irgend möglich im zaum zu halten, dann hat dieter dazu, weit weg von jedem symbolismus, der chemie einen rauschenden festzug ins metier bereitet. aus dem hut des physikalischen primats wurde zb. so eine aberwitzige verrücktheit wie der triumpf des weissen marmor gezogen, idealisierende fange in denen man steckt.

mit solchen verhängnissen hängt zusammen, wie er musik gemacht hat: die HARMONICA CURSES …. die musik, deren leute die züchtigende exklusivität schwingen. dagegen hat er sich in die ecke gestellt und mit überlegener kraft sich zurückgeholt, was verloren schien, was einst so nah war wie ein kleid und jetzt in soldatische exerzitien weggerissen wurde. pan folgt nicht, er ist es, der die massstäbe setzt und grazie ist rarer als virtuosität. im radio wurde svjatoslav richter zitiert: „zuviel üben macht schlechte gedanken“. ein janusköpfiger satz, er gibt schon einen schimmer. aber die R ADIO SONATE gibt den vollen einblick in die rohstofffrage. und dieter hat die auf die eigene ebene der naturgeschichte gelotst und damit der verwünschten hierarchie der ebenen ihre ähnlichkeiten oder gar gleichheiten vor augen gehalten: terra macht (auch) marmor, mensch macht (auch) abfall. und hasenköttel, obstsäfte, gewürzdüfte, hundegebell...... wer macht was; und wenn einer was macht kann man auch was zusammen machen.

die kleinen akademien in seinen ausstellungen gibt's ja schon lange. und jetzt rufen björn roth und jan voss die DIETER ROTH ACADEMY ins leben? und das ohne ihn?

im gegenteil: nicht nur sowas wie stabübergabe, was ja zusammen geplant heisst, sondern vielmehr noch: der gravierende geist soll all das, was er verwirklicht hat an den klippen des todes verwirken? wie denn, da er das ende ja schon decouvriert hat, wie denn da er ein infiltrationsgenie ist, wie denn, da er die organisch-chemischen prozesse selbst in gang gesetzt hat ?

also kongeniale konsequenz und feier der paradoxie.

also auch: wie werden die ausstellungen seiner sache aussehen? wer wird sie machen? es drohen vielleicht zwei hauptirrwege, der eine in die museale vereinzelung, vereinsamung, und konkret: verlassenheit; der andere in die richtung der krachend katakombischen erlebnisräume, gerierten sie sich noch so andächtig. zwei ausprägungen der selben sache, nach aussen abgeschlossen bedarf es der vermittlung.

eben das nicht : das licht stimmte immer, die tonwelt auch, die sache war immer weit offen und durchlässig klar, warm, eher weich, keine blendungen, farbig, beweglich, untheatralisch, berauschend schön und zuneigend: hier kann man (nicht: darf; nicht: wagt zu) sich mal hinsetzen, auch was selber machen, stifte, papier, kamera sind da, hier kann man was trinken, sogar ne zigarette rauchen; dort ein bisschen klavier spielen, wenn die ruhe (die er ja mit geräuschen, so wie er sie wollte, selbst gemacht hat) einen genügend angetömt hat, hier mal den kopf auf eine runde und da auf eine eckige tischplatte legen, ausruhen und mit dem so gelösten blick vor den füllhörnern weinen und lachen; oder an der bar nen wodka nehmen, möbel, gefüllter kühlschrank, das spiel von voll und leer in den regalen, waschbecken, obstschale ……. zuhause? keine abruptheiten, kein wegnehmen der orientierung, beschützende nischen und durchblicke, reine sanftmut des scharfen denkers.

im einzelnen in allen schichten fülle, sprühendes alles in allem, hochlibidinöses verhältnis mit der materialen welt. im ganzen aber und auch im grossen eher erotische zurückhaltung. teuflisch subversive und engelgleich feine einschliesslichkeit. der wärter der GROSSEN TISCHRUINE im museum hamburger bahnhof in berlin hat das auf einen wunderbar einfachen satz gebracht, er sagte zu mir: „hier muss man nicht aufpassen dass jemand was wegnimmt, hier muss man aufpassen, dass keiner was dazutut“.

tod irrte eh – ist ein anagramm seines namens, und – heiter dort?

die list, mit der er sich unter das riesensieb der gesellschaftlichen vorgänge gestellt hat, unter die grosse saftmaschine (den namen leih ich mir von ihm) des cottidianen bis zelebren, und aufgefangen hat, was da durchfiel – mental, material – alles – und es oben wieder reingeschüttet hat. oft das gefeierte in alltäglichen und das alltägliche in gefeierten gestalten. aber das ist nicht prinzip, oder nicht mehr als alle anderen unzähligen ansätze, methoden und hinsichten die er erfand. deshalb ist es auch irreführend, die allerdings verlockend beeindruckende aufzählung aller kunsthistorischen gattungsbegriffe, die auf seine sache zuträfen, zu machen, versteht sich. die anzahl sagt 1 hund 1 tisch 1 wurst. aber die anzahl der eigenschaften von 1 hund, 1 tisch, 1 wurst und die spiele untereinander, das geht ins unermessliche.

sein märchenhaftes abfangen, quasi wie im flug, der sachen und gedanken, die gerade ihren üblichen gang gehen sollten, das leichte ablösen und abzweigen und zu sich nehmen, das auffangen des abfallenden, verdächtigen des verdachts, die verzauberung des blicks fürs triviale als nie dagewesenes, die schönheit der nacktheit des nicht korrigierten und noch so sehr vieles mehr – es würde nicht mitgezählt.

KANN EIN WESEN ETWAS SEHEN OHNE DAS ZU EIN ODER WENIGSTENS ZU WERDEN ODER WENIGER ZU WERDEN?

das ist doch die antwort, die die pythia, der DRAche der metasophia, auf die frage nach der ästhetik gegeben hat.

diderot (indem er so heisst klagt er rot died) wollte „wissen, wo es eine schule gibt, in der man empfinden lernt“. hier, hier – möchte man ihm nachrufen, wenn es also jetzt um dieter roth's akademie geht, dann geht es jetzt wohl um befreiende umwertungen im dasein oder gar erlösende entwertungen – hoppla was ist das – im kleinen wie im grossen; um die voraussetzungen dazu und die taten daraus.

so raffiniert wie die sehnsucht den tod überlistet: ein kleines signal der ähnlichkeit, ein bart an einer wange, eine mütze, ein offener kragen, eine haltung an irgendeinem fremden auf den strassen und blitzartig kurz erschafft das gleissende vegetativum ihn in seiner ganzen gestalt zurück.

Berlin, April 2000