Zum Abbild
Zuerst erschienen in: Kunstmuseum Aargau (Hrsg.): Suzanne Baumann: Werke Sammlung. Edition Howeg: Zürich, 1992, S. 20–22 und S. 142/143.
Fotos sind das Bild Dornröschenschlaf, ausnahmslos.
Die Abbildung einer Sache ist das Bild des Dornröschenschlafs dieser Sache.
Auch in diesem Katalog haben die Abbildungen die Fotografie zur Voraussetzung
des Drucks.
Es ist gut, wenn erkennbar ist, dass eine Reproduktion schlecht ist; die Sache
selbst ist damit aus dem Schneider.
Es ist gut, wenn erkennbar ist, dass eine Sache einfach reproduzierbar ist und
einfach reproduziert wurde.
Es ist gut, wenn erkennbar ist, dass eine Sache schwierig reproduzierbar ist
und schwierig reproduziert wurde, wenn auch technisch perfekt.
Es ist gut,
wenn eine schwierige Sache angemessen unperfekt reproduziert wurde.
Es ist gut, wenn eine Sache sich der Reproduktion gegenüber widerspenstig
verhält und man das sehen kann.
Es ist gut, wenn eine Sache mit ihrer Reproduktion gut zusammengeht, wie auch
immer, und es ist wunderbar, wenn Sache und Reproduktion identisch sind.
Das Bild Dornröschenschlaf ist das immer Gleiche.
Die Sache verändert sich.
Hebt der Koch den Löffel, ist dieser Umstand leicht zu erkennen.
Hebt der Koch in einem Bild den Löffel, auch noch.
Das Bild ist die Sache. Es muss zuerst da sein.
Hebt in einem Bild kein Koch den Löffel, wird's schwierig.
Jedoch hebt in jedem Bild ein Koch den Löffel.
So ist jedes Abbild eines Bildes das Bild des Dornröschenschlafs dieses
Bildes.
Insofern ist das Abbild ein Bild, immer das des Dornröschenschlafs. So hat
man es in diesem Katalog mit lauter Schläfern zu tun?
Ich sage: ja, man hat es mit einem Schlafsaal voller Dornröschenschläfer zu
tun.
Das besagt einzig und allein, dass man das wissen muss, sonst gar nichts.
Man muss wissen, dass die Abbildungen in diesem Katalog die Bilder in einem
besonderen Schlaf zeigen, dass hier auf eine besondere Weise geschlafen
wird.
Nun muss ich behaupten, dass manche Bilder in diesem Schlaf ein schlechteres Bild abgeben als andere, dass es ihnen ferner liegt, in diesem sozusagen angehaltenen Zustand, denn in den Dornröschenschlaf kann man nicht fallen, abgebildet zu sein, als anderen und dass dadurch bei der Verwechslung von Bild und Abbild Verwirrung gestiftet wird.
Es ist unabwendbar, dass alle Fotos aus Sachen andere Sachen machen, denn der Betrachter muss extrapolieren, und das ganz neben der Tatsache, dass alle Fotos aus Sachen Fotos machen. Und doch neigen wir dazu, auf Grund eines Katalogs zum Beispiel zu sagen: die macht ja gute Bilder; ohne jemals ein einziges außerhalb dieses weit verbreiteten Schlafs gesehen zu haben. Und auch neigen wir dazu, zu glauben, dass eine technisch perfekte Reproduktion richtig sei, ja, dann sogar eher dazu, zu sagen: schlechtes Zeug, als: schlechte Reproduktion.
Technisch perfekte Reproduktionen müssen nicht gut (genug) sein, denn es ist zum Beispiel schlecht, wenn man einer Reproduktion nicht ansehen kann, dass sie ihre Bilder durchgehend auf eine ganz und gar glaubwürdige, in sich stimmige (wie man sagt) aber völlig andere Qualitätsebene verschleppt! (Im Schlechten wie im Guten: schlecht)
Jedenfalls sah ich, dass es vielen von Suzanne Baumann's Bildern im Bild des genannten Schlafes schlecht ergeht.
Die westliche Vorstellung von Kultur (und das will ja was heißen!) ist eine Vorstellung von Zerfall.
Es gibt Hochkultur, Subkultur, Gegenkultur usw. und daneben gibt es all das, was außerhalb der Kultur ist. Es gibt also Gegenstände, Sachen, Zeichen usw., die die Kultur ausmachen und andere, die aus ihr herausgefallen sind oder nie darin gewesen sind aber ihre Begrenztheit zeichnen.
In S.B.'s Bildern geht das Gegenteil davon vor (und das will auch was heißen!). Es gibt in ihnen nichts, was es nicht würdig oder was auch immer wäre, mit allem und jedem anderen gleich zu sein.
Nun werden sie sagen: kommt darauf an, was einer einlässt; wird er nicht rechtzeitig dafür sorgen, dass Zwietracht draußen bleibt? – Recht haben sie, die Abendländer des endenden 20. Jahrhunderts, denn „sie verstehen nicht, wie es zwieträchtig mit sich selbst im Sinn übereinstimmt: gegenstrebige Fügung wie von Bogen und Leier“ (Heraklit)
Darum haben die einzelnen Formen im Ganzen quasi keine festen Positionen oder Identitäten sondern tauschen, wie in einem ununterbrochenen Prozess, ständig Herkunft und Bedeutung gegeneinander aus – angetrieben von einander! Und der Blick potenziert die Dynamik.
„Der Blick ist sehr beweglich, springt rasch von einem Gegenstand zum anderen, tausendfach in einer Sekunde zündet und erlischt er, bricht ab und schweift weiter. Und inzwischen kehrt er noch pausenlos um, richtet sich ins Innere, nimmt und gibt, gibt und nimmt, und sein Faden spinnt ununterbrochen, zerreisst, bildet sich wieder, und die Fäden hängen überall.
Diesen Faden kann man auch malen. Er ist herrlich. Die Malerei kann alles auf einmal wiedergeben: die flüchtigen Phasen des zerstreuten Blicks, alles, was die Erscheinungen beim Erblicken auf ihn projizieren und was er auf sie projiziert, was sie seinem Blick entgegenwerfen. Aus dem allen kann man eine Mischung herstellen. Ein Bild kann solche Spiele mit beweglichen und flüchtigen Phänomenen festhalten“ J. Dubuffet (Übersetzung J. und I. Debains).
Auch das für z.B. hässlich, abgeschmackt, sentimental Gehaltene - eigener und sogar anonymer Herkunft – existiert gleichberechtigt mit allem und jedem Anderen und wir Zerfallsleute erschrecken oder gar schämen uns vor dessen Gegenwart in einem solchen Zusammenhang.
Aber – in den Bildern kann der scrupulus durch seine hohe Beweglichkeit für den irritierten Betrachter bald das, was er in ihnen hat, die Gleichberechtigung, wiedergewinnen – und ist ihr seltsames Zeichen.
Dubuffet: „Was den Zauberer so fasziniert, ist die Verwandlung: des Schönen in das Hässliche - und des Hässlichen in das Schöne. Aus diesem Vorgang können wir etwas lernen.“
Jedoch in seinem Abbild, dem Bild seines Angehaltenseins, muss auch ein für hässlich, abgeschmackt usw. Gehaltenes, ein scrupulus, seine Verwandlungsfähigkeit einbüßen, und erst dadurch kann er sich sozusagen ungehindert – als wenn auch unangenehm so doch vielleicht einzig Wiedererkennbares – in ganz falscher Wichtigkeit in die Wahrnehmung des Betrachtenden durchschlagen und so geradezu das Gegenteil zu seiner universalen Existenz manifestieren.
Ein diffiziler Vorgang.
Sollte man da nicht auf den Gedanken kommen, dass die Bilder, weil in ihnen der westliche Kulturbegriff gleichnishaft, treffsicher und dazu noch nur nebenbei dekuvriert wird, in seiner Reproduktionswelt büßen müssen? Warum nicht?
Viele Bilder sind große Treffen: aus allen denkbaren Sphären, Dimensionen und Bereichen, von Fern und von Nah, von Innen und Außen usw. sind Geschehnisse zusammengekommen und das alles bewegt sich durcheinander, bedingt einander, reizt einander;
sie locken an und stoßen gleichzeitig ab: so ist Welt und Welt ist auch das Zuviel, das Mehr verlangt je mehr man wahrnimmt.
So verlangen sie auch: auf kein Jota des sie Betrachtenden verzichten sie. Schier wollüstig trachten sie selbst nach allen seinen Verfassungen und Fähigkeiten: z.B. nach seiner Hingabe an das Unbekannte und das Fremde; nach seiner Müdigkeit, Verzagtheit, seinen Zweifeln; nach Trauer, Schuld, Scham und Leid; nach Rausch und Ekel; nach Ethos, Ritus, Feierlichkeit und seiner Einsamkeit; nach seinem Wissen und seinem Verstand; nach Nahekommen und Sichentfernen und Zu- und Abneigung; nach seinem Verhältnis mit der Mystik und der Fantastik; der Geschichte, den Wissenschaften; mit Raum und Zeit und Tod und Lebewesen und immer nach seiner verhängnisvollen Bestürzung und Melancholie – archaische Feste, die den Betrachter in vegetativen Schrecken versetzen können... denn all das ist zu sehen.
Wie also der Betrachtende so vor der Sache changiert, wie könnte da ein kleines Schlafbildchen von ihr, in seiner Hand, und sei es noch so herrlich gedruckt, davon genügend auslösen?
Und auch dieser Text hat der Reproduktion ähnliche Tücken: muss er doch so tun, als seien Suzanne Baumanns Bilder nicht auch wesentlich verschieden voneinander und: als kennte er sie alle – doch das ist nicht so.
So werden jene Bilder, die er nicht betrifft, gelassen dastehn. Die aber, die er betrifft, mögen ihm gnädig sein.