Andrea Tippel

Schulz M 2016 Jahrbuch

Marc Schulz
„Die Stifte hatten das Wort“ (28.10.94) Oder: „Selbstporträ als: 60) Apriladepten“ (13.11.94). Zu den Zeichnungen aus dem JAHRBUCH I, II und III.

Zuerst veröffentlicht auf http://www.melikebilir.com/de/die-stifte-hatten-das-wort.html

Allein der Kontext, aus dem die Blätter stammen, klärt, dass den Betrachtenden keine als autonom zu bezeichnenden Werke vorgeführt werden, die sorgsam von der Künstlerin oder Galeristin aus einem größeren Fundus ausgewählt wurden. Bei den gezeigten Zeichnungen handelt es sich stattdessen um eine Auswahl an Blättern aus dem Jahrbuch I, II und III. Andrea Tippel notiert als eigenen Anspruch an das erste Jahrbuch: Es „ist eine Übung im täglichen Überlegen, gedanklichen Verknüpfen und Notieren. Es entstand nach dem Konzept: ein Jahr lang jeden Tag eine Zeichnung, einen Tag lang jede Stunde eine Zeichnung, eine Stunde lang jede Minute eine Zeichnung, eine Minute lang jede Sekunde eine Zeichnung.“ (Das Andrea Tippel Heft 1992, S. 1) Bei den Blättern handelt es sich folglich um Tagesnotizen „gezeichneter Beobachtungen“ (ebd.), also um tagtäglich vollzogene Exerzitien, die das situativ Erfahrene in visuell verdichtete Erfahrungen transformieren. Ein teleologisches oder systematisches Erklären oder Mitteilen ist nicht die Intention dieser Art des Zei/chn/g/ens, vielmehr steht der Prozess des Übersetzens im Vordergrund.

Dieses in einem Denk-/Beobachtungsprozess-verstrickt-Sein lässt sich auch an den einzelnen Zeichnungen mitverfolgen: Nicht jeden Tag fällt einer_m etwas anderes ein, nicht jeder Tag kann mit etwas Herzeigbarem gefüllt werden. So tauchen Zeichnungen auf, die „eingesetzt sind“ für ein Datum – es handelt sich also gewissermaßen um Tages-fakes – als auch Variationen von Themen und Titeln, die in der Zeit zuvor entwickelt wurden. Dabei ist aber aufschlussreich, dass ein Aspekt des täglichen Transformierens wiederkehrt: Es ist die Auseinandersetzung mit dem Selbst mittels Sprache – hier in Form des geschriebenen Kürzels „a.t.“ oder der Permutation des ausgeschriebenen Namens „Andrea Tippel“. So wird in einer langen Reihe von „Selbstporträ’s“ der eigene Name zu fremden Personen wie „Antidepp Lear“ und „Daniela Trepp“, zu Gegenständen wie „Aladintreppe“, „‘n Papierdelta“ und „da! Lappentier!“ anagrammiert. Diese Selbstneumontagen in Form von Anagrammen werden weiter übersetzt – wie sieht also das eigene Selbst als „Aladintreppe“ aus? Wie als „‘n Papierdelta“?

Mit dieser fröhlichen Multiplizierung des Beobachterinsubjekts stellt Andrea Tippel ein als ein mit sich identisches Selbst, welches über einen Wesenskern verfügt, in Frage und subjektiviert sich stattdessen in variantenreichen Bausteinen sowohl als Gegenstände und Personen neu. Dabei führen die Zeichnungen auch ein verteiltes Konzept des Beobachtens vor: Nicht Andrea Tippel ist es, die immerzu autoritär den Stift führt und die Zeichnung vorher denkt, die sie wiederum aus ihrem Aufmerksamkeitsstrom und ihrer Verstandesleistung gefiltert hat. Vielmehr übernehmen immer wieder das Papier, die Stifte, die Intelligenz der gelehrten Hand das Regiment und verweisen die Zeichnerin auf das situative Zusammenspiel von Objekt und Subjekt – so verbietet etwas im Imperativ „Psst! Lass das! Jetzt nicht zeichnen!“(26.6.91) oder es hatten „Die Stifte (.) das Wort“ (28.10.94). Jede Zeichnung stellt uns damit eine Form von Subjektivierung vor, welche einen Entwurf von Welt macht, täglich anders.

Quellen:
Das Andrea Tippel Heft. Verlag Barbara Wien 1992.
Jahrbuch I. s/w Kopieband. Selbstverlag Berlin 2009.
Jahrbuch II. s/w Kopieband. Selbstverlag Berlin 2009.
Jahrbuch III. s/w Kopieband. Selbstverlag Berlin 2009.