Michael Glasmeier
Auf was?
Zuerst veröffentlicht in: Das Andrea Tippel Heft. Wiens Verlag Berlin 1992, S. 10
Wir haben inzwischen gelernt – und das hat einige Zeit gedauert –, daß es nicht allein die Schrift ist, die Geschichten erzählt, theoretisiert, informiert und verkehrte Welten in die Welt setzt, sondern auch die Zeichnung über ihre Anmutungsqualitäten hinaus auf subtile, hinterhältige und zugleich ökonomische Art die scheinbar allgemeinverbindliche Horizontlinie nachhaltig zu demontieren, zu verlegen, auszuradieren vermag. Daher lieben wir die Zeichnungen von Andrea Tippel, die in nunmehr zwanzigjähriger Arbeit in immer neuen Anläufen durch einige Striche, Farben, Worte systematisch die Verhältnisse auf diesem Planeten in ein bemerkenswert schräges, heiteres, poetisches und philosophisches Licht rückt.
Alles, was sich zählen, messen, bestimmen, auswendig aufsagen und inwendig schauen lässt, produziert bei Andrea Tippel eigene Gesetzmäßigkeiten, deren unschuldige, schlüssige Logik uns in die verschiedensten Zustände von der Melancholie des zweifelnden Jean Paul bis zum Lachen mit den Zähnen Rabelais‘ versetzt.
Parallel zu den Zeichnungen entstehen seit 1977 merkwürdige Objekte, die die feine Logik der Zeichnungen aufnehmen und greifbar machen. Wir können diese Objekte in drei Kategorien einteilen:
1. Alltägliche Objekte wie Möbel werden auseinandergenommen, neu konstruiert oder verändert.
2. Gebrauchsgegenstände werden in neue Zustände versetzt.
3. Objekte aus unterschiedlichen Materialien finden sich erotisch miteinander verbunden.
Zu 1.: Hier kann es passieren, daß die eingefleischte Sitzordnung zusammenbricht, und wir erleben, wie ein Stuhl oder ein Tisch anthropomorph selbst sitzt, hockt, liegt oder sich auf Stelzen in unerreichbarer Ferne bewegt.
Zu 2.: Die weiche Watte formt sich zu einer steinernen Pyramide, und wir können den Zerfall der Stereometrie in ein graues Etwas miterleben, Gizeh im Zeitraffer. Ähnliche Verwandlungen werden exemplifiziert an einem Stadtplan, Schuh, Milchkännchen oder einem Butterbrot. Diese Objekte besitzen eine eigene Zeit, eine innere Uhr, die unabhängig von der Normaluhr im Raum tickt.
Zu 3.: Auf individuelle Raum-Zeit-Ausdehnung beharren auch die Objekte, die Andrea Tippel „Komposite“ nennt. Ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf Rädern, ein Pinsel mit einer Haarlocke als Quast, eine Milchtüte mit Kussmund, eine laufende Gabel, gekettet an eine Kugel, ein Zollstock, umschlungen von einem Bandmaß: durch einfaches, scheinbar unkompliziertes Zusammenfügen mutiert der Alltag zum Aberwitz an der Schwelle von Lächerlichkeit und Pathos. Das Mess- und Abwägbare, das Funktionstüchtige findet sich wieder im siebten Himmel der schönsten und heiteren Negation.
Und in allen, neben allen, vor allen diesen Objekten wuchert die Sprache und treibt auf einer vierten Ebene die Irritation vorwärts; denn die Titel wiederholen nicht, was die Objekte versprechen. Sie führen den poetischen Faden in weitere, unbekannte Gebiete der Logistik Andrea Tippels. Wir Betrachter müssen sehen, lesen, ahnen, kombinieren, vergleichen und raten zugleich. Haben wir Konsequenzen aus diesen Welten zu ziehen? Das Lachen, Staunen und Grübeln bereitet uns vor.