Christoph Benjamin Schulz
Das Schreiben im Blick – Andrea Tippels literarisches Werk
Zuerst veröffentlicht in: Andrea Tippel: Klausnerinnenstück. grass publishers, Brauweiler 2022.
Andrea Tippel ist mit Zeichnungen, Skulpturen und Künstlerbüchern bekannt geworden, wobei die literarische Dimension ihres Werks noch zu entdecken ist. Sie unterhielt enge Freundschaften zu Dieter Roth, Meret Oppenheim, Dorothy Iannone und Tomas Schmit, in deren Werken Bildnerisches und Literarisches ebenfalls ineinandergreifen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der mit ihnen geteilten Leidenschaft für das Büchermachen. Viele Bücher von Tippel erschienen in heute für ihre Künstlerbücher bekannten Verlagen, wie dem Rainer Verlag, Dieter Roth’s Verlag, Wiens Verlag und in der Edition Marlene Frei. Tippel begleitete die Produktionsprozesse soweit, dass sie bis hin zum Druck der Bögen mitwirkte. Ab 1994 veröffentlichte sie ihre Bücher größtenteils im Selbstverlag, was hieß, dass sie die Vorlagen selbst kopierte und binden ließ. Das Interesse für die handwerkliche Präzision hinsichtlich der Qualität der Reproduktionen wich der Faszination für den möglichst unmittelbaren Bezug zum Prozess der Buchherstellung. Das Kopieren erlaubte ihr, Bücher in beliebiger Auflage on demand und just in time selbst herzustellen und zu vertreiben. Daher ist ein Teil dieser Bücher in unbestimmten Auflagen veröffentlicht worden.
Die „PhiloArs Library“ (2008/2009), eines ihrer letzten großen Werke, belegt den hohen Stellenwert, den Literatur und Philosophie sowie Reflexionen über das Buch als Speicher- und Distributionsmedium für sie hatten. 108 Reproduktionen von Zeichnungen zeigen aneinandergereihte und teils gestapelte Buchrücken. Auf die Wände gebracht, erwecken sie nicht nur den Anschein von laufenden Metern voller Bücherregale: Aus den Zeichnungen wird eine raumgreifende Inszenierung vermeintlicher Bibliothekswände. Auf jedem Blatt, schreibt Tippel, sind „im Durchschnitt 18,6 Buchrücken zu sehen, so, wie sie sich in einer ungeordneten, weil zu engen Bibliothek wiederfinden ließen.“1 Es handelt sich um eine etwa 2000 fiktive Titel umfassende Bibliothek noch nicht geschriebener Bücher, deren Titel sich auf eine von ihr aufgestellte Hypothese beziehen: „Sie behauptet, daß die Kunst sich in der jetzigen Epoche in einer der Philosophie vor ungefähr 2400 Jahren, der Zeit des folgenreichen Übergangs von der sokratischen zur platonischen Denk- und Handlungsweise, die, u.a. auch vermittels der Verschriftlichung, den Übergang von der Weisheit selbst, Sophia, zur Philosophie, der Liebe zur Weisheit, markiert, vergleichbaren Situation befindet.“2 Die Titel sind mal akademisch („Post Neo Platonism nowadays – an analysis of the perception of ‚Position‘“), mal populärwissenschaftlich („the death of art“), mal satirisch („Sonnenstich, Bienenstich, Kupferstich – about the equivoque of art“). In der Reihung prognostizieren sie ein komplexes Denkgeflecht, das erst noch zu entstehen hat.
Während die „PhiloArs Library“ die möglichen Ergebnisse zukünftigen Schreibens als Bild vergegenwärtigt, ist das Schreiben selbst seit ihren künstlerischen Anfängen ein integraler Bestandteil ihres zeichnerischen Schaffens. Viele von Tippels Zeichnungen enthalten handschriftliche Titel, Notizen, Kommentare, Leseanweisungen, Erklärungen und Ausführungen. Mitunter benennen sie Offensichtliches; oft weisen sie aber auch auf Brüche hin oder lösen mit erkenntnistheoretischem Impetus Irritation aus. In den drei „Jahrbüchern“ (1989 bis 1996) lässt sich das Ineinandergreifen von Schreiben und Zeichnen als eine diaristische Praxis verfolgen. Sie sind „eine Übung im täglichen Überlegen, gedanklichen Verknüpfen und Notieren.“ Sie entstanden „nach dem Konzept: ein Jahr lang jeden Tag eine Zeichnung, einen Tag lang jede Stunde eine Zeichnung, eine Stunde lang jede Minute eine Zeichnung, eine Minute lang jede Sekunde eine Zeichnung.“3 Marc Schulz spricht in einem aufschlussreichen Text über die Künstlerin von tagtäglich vollzogenen Exerzitien.4
Mit „Zeichnungenbeschreibungen, Teil 1“ (1989), anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Marlene Frei in Zürich erschienen, tritt Tippel zum ersten Mal als Schriftstellerin in Erscheinung. Das Heft ist Werkverzeichnis, Ausstellungskatalog und Künstlerbuch zugleich. Im Vorwort weist Tippel darauf hin, dass Reproduktionen der 63 Zeichnungen aus den Jahren 1969 bis 1972 aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen seien und sie die Arbeiten zum Zweck der Dokumentation daher beschrieben hätte. Die Abbildungen werden durch getippte Texte ersetzt, in denen sachliche Bildbeschreibungen, Hintergrundinformationen und Deutungsansätze auf so eigenwillige wie unterhaltsame Weise miteinander verwoben werden. Während sie hier die Tradition der Ekphrasis, der literarischen Bildbeschreibung, aufgreift, ist es in „64 Dramotlette“ (1993), entstanden für eine Ausstellung in Frankreich, das Dramolett als theatrale Kurzform mit Aufführungsdauern von nicht mehr als 15 oder 20 Minuten.5 Oft handelt es sich um Einakter mit absurden oder grotesken Zügen, wie man sie beispielsweise von Sketchen kennt. Auch wenn Tippels „Dramotlette“ – das eingeschobene ‚t‘ ermöglichte ihr übrigens mit ‚le mot‘ ein Wortspiel – keine Aufführungstexte sind, verfügen diese Zeichnungen über ähnliche künstlerische Qualitäten: Aus Sketchen werden Skizzen kurioser Szenen.
Im gleichen Jahr begann sie mit der Arbeit an „Ich und Sie. Ein Roman aus dreibuchstabigen Wörtern“.6 Mit dieser ungewöhnlichen Form der selbstauferlegten formalen Beschränkung, die als künstlerische Herausforderung zu verstehen ist, stellt sich Tippel in die Tradition des Schreibens mit Contraintes, das als künstlerische Strategie seit den 1960er Jahren von den Autoren der Oulipo-Gruppe propagiert und praktiziert wurde. Die „Ouvroir de Littérature Potentielle“ (Werkstatt für potenzielle Literatur) war ein Zusammenschluss avantgardistischer Autoren, der 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau initiiert wurde. Einer der bekanntesten Romane war Georges Perecs „La Disparition“ (1969) – ein Text, in dem der Autor auf den Buchstaben „e“ verzichtete, den sowohl im Französischen und im Deutschen wie auch in vielen anderen europäischen Sprachen am häufigsten verwendeten Buchstaben. Die Tradition solcher leipogrammatischen Texte reicht bis in die griechische Antike, von wo aus sie sich über das Barock und das 19. Jahrhundert bis in die zeitgenössische Literatur verfolgen lässt.7 Mit ihrer Leidenschaft für Anagramme greift Tippel eine andere sprachspielerisch-literarische Tradition mit ähnlich langer und facettenreicher Geschichte auf.8
Eines ihrer bemerkenswertesten Künstlerbücher ist „Maria-Alexandra Mahlberg-Tippel: Haushaltsschriften“,9 das 1995 als letzte Veröffentlichung in dem Verlag von Dieter Roth erschien: eine Box mit 228 Reproduktionen der Einkaufszettel ihrer Mutter aus den Jahren 1986 bis 1991, die Tippel nach deren Tod unter ihren Hinterlassenschaften gefunden hat. Akribisch hatte die Mutter notiert, was sie an welchem Datum für ihren täglichen Bedarf besorgt hatte. Nicht weniger penibel sind die Reproduktionen der oft auf Rückseiten von Werbepost verfassten Listen, in den jeweiligen Originalformaten, auf zwölf verschiedenen Papieren und doppelseitig gedruckt im Strich- und Rasteroffsetverfahren. In der Funktion als Herausgeberin ist Tippel nicht im engeren Sinne Autorin, sondern literarische Konzeptualistin.
Das „Klausnerinnen-Stück“ stammt aus den gerade in literarischer Hinsicht produktiven 1990er Jahren. Der Titel spielt auf die Laienorden der Beginen oder Klausnerinnen an, die sich im spätmittelalterlichen Europa etablierten. Ihre Ziele entsprachen im Wesentlichen denen der amtskirchlich anerkannten Ordensgemeinschaften. Sie strebten Armut, Askese und eine fromme Lebensführung an, die von Tugend und Nächstenliebe geprägt war. Die Klause war ein Ort des Rückzugs und der Andacht. Die Künstlerin als Klausnerin, das Atelier als Inklusorium. An einem Fenster angebracht, ist Tippels Gedichtobjekt in Form einer Schablone, aus der das Wort „Welt“ ausgeschnitten ist, eine Meditation über das Verhältnis von Drinnen und Draußen, von Außenwelt und Innenwelt, von Einsicht, Aussicht und Weitsicht – oder kurz: über die Erkenntnis.
1 Andrea Tippel: Begleittext zu „PhiloArs Library“. Die einzelnen Blätter sind knapp DIN A3-Querformat groß.
2 Ebd.
3 Andrea Tippel: Das Andrea Tippel Heft. Zeichnungen, Objekte, Komposite, Bücher, Texte. Biographie, Bibliographie und eine Ausstellungsliste. Berlin 1992, S. 1; Andrea Tippel: Jahrbuch I: 1989–90. Berlin (Selbstverlag) 1989 (2. Auflage 2009); dies.: Jahrbuch II: 1991–92. Berlin (Selbstverlag) 2009; dies: Jahrbuch III: 1994–95. Berlin (Selbstverlag) 2009.
4 Marc Schulz: „Die Stifte hatten das Wort“ (28.10.94). Oder: „Selbstporträ als: 60) Apriladepten“ (13.11.94). Zu den Zeichnungen aus dem Jahrbuch I, II, III: http://www.melikebilir.com/de/die-stifte-hatten-das-wort.html.
5 Vgl. u.a. Karlheinz Braun (Hg.): MiniDramen. Frankfurt am Main 1987.
6 Der Roman wuchs als work in progress über die Jahre in Schüben an und wurde 2009 von Tippel für beendet erklärt. Bis dahin publizierte sie die immer länger werdenden handschriftlichen Fassungen im Selbstverlag. Gelegentlich las sie daraus öffentlich vor und fertigte Tonbandaufnahmen einzelner Passagen an. 2019 erschien posthum eine aus mehreren Aufzeichnungen kompilierte Fassung: Ich Und Sie. Ein Roman aus dreibuchstabigen Wörtern. Stimme: Andrea Tippel. Hg. von Marc Schulz. Berlin (Tochnit Aleph) 2019.
7 Vgl. hierzu unter anderen: Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. 2. Auflage. Berlin 1992; Klaus Peter Dencker (Hg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002.
8 Vgl. bspw. Andrea Tippel: Selbstportrait als... Berlin (Selbstverlag) 1995.
9 Andrea Tippel (Hg.): Maria-Alexandra Mahlberg-Tippel – Haushaltsschriften. Basel (Roth’s Verlag), Berlin (Selbstverlag) 1995.