Andrea Tippel

Zitty 1993

Die Phantasie in Schach halten.

Andrea Tippel im Gespräch mit Claudia Wahjudi über Zahlenmystik, Anagramme, Palindrome – und Zeichnen.

Erstveröffentlicht in: Zitty, Nr. 25/1993, Hrsg. Zitty Verlag GmbH, Berlin, S. 76–77

Sie produzierte mehr als 1000 Zeichnungen in 20 Jahren, im Durchschnitt jede Woche eine. Sie spürte der Form des Herzens bei schmusenden Katzen, balzenden Schwänen und kopulierenden Libellen nach, verwandelte ein Apfelmännchen in ein Birnenhündchen.

Claudia Wahjudi: Sie sind Autodidaktin. Auf welchem Weg haben Sie zu Zeichnung und Objekt gefunden?

Andrea Tippel: Zu den Objekten sage ich mal nichts. Und was heißt schon Zeichnungen und Objekte? Man macht doch furchtbar viel verschiedenes Zeug. Neulich bin ich auf 31 mehr oder weniger traditionelle Kategorien gekommen. Naja, man ist Kind und dann soll man was werden. In der Musik gibt's das, das einer als Kind schon was ist, nämlich ein Wunderkind. Das gibt's meines Wissens nach in der bildenden Kunst so nicht... und schon ganz und gar nicht in der Zeichnerei – ein sehr spannendes Thema. Also jemand, der durchgehend irgendwie gezeichnet hat, nicht wunderbarer als andere auch, soll was werden, und ich wollte schon früh Schauspielerin werden und wurde das, soweit ein Examen eine Schauspielerin ausmacht. Aber schon nach der Hälfte des Studiums war klar, dass das nicht stimmt. Ich hab' sehr gesucht nach dem, was ich in dieser Welt alleine machen könnte. Dann hat Tomas Schmit mir 1971 gesagt, dass ich ja eigentlich schon Zeichnerin sei.

Wahjudi: Welche Dynamik nahm die Entwicklung an?

Tippel: Na, ich war zu der Zeit Zapferin bei Bernd und Carola Fahr – eine meiner beiden Schwestern – im Zwiebelfisch und hatte ein Pensum von zwölf tadellosen Zeichnungen pro Jahr. Als das 1982 zu Ende war, ging das hier los mit der Flut. Bis ich dann Juni '88 bis Mai '89 über 500 Zeichnungen gemacht hab', und da das bei mir so ist, dass jede Zeichnung eine eigene – naja – Story ist oder ein Stück im Sinne der Musik, war das schon ein Ding. Das hat mich aber auch nachhaltig in Verwirrung gestürzt, weil damit zum ersten Mal die Quantität, sozusagen mit der Gesamtheit an der Hand, lawinenhaft und erschreckend statiös hier einbrach, so dass für mich das Zeug jetzt erstmal zur Mappenkacke verkommen ist. So geht das.

Wahjudi: Bei der Mappenkacke belassen Sie es ja nicht. Warum machen Sie trotzdem weiter?

Tippel: Naja, es gibt Sachen, Gedanken, Strukturen und dies und das – und zwischen denen ist der Teufel los! Da, in den Sphären der Verbindlichkeit dessen, was da ist, da fühl' ich mich ganz wohl und da kann ich zeichnen.

Wahjudi: Welches Verhältnis zu den Dingen müssen Sie haben, um zu tun, was Sie tun?

Tippel: Ein gutes. Ich versuch', nah an den Dingen, den Vorgängen, den Zusammenhängen zu bleiben, aber aus einer anderen Richtung oder aus vielen anderen Richtungen auf sie zu treffen. Ich versuch', die Phantasie in Schach zu halten. Die Phantasie ist ein endlos wucherndes, beliebtes Etwas und man könnte sein Leben mit ihr allein verbringen, aber es lohnt nicht. Auch der alte Animismus zum Beispiel, den ich auch gern betreibe, ist ein sehr weites Feld, auch er würde für ein Leben ausreichen, weiß Gott, aber auch er allein lohnt nicht; das sind eher Voraussetzungen. Es scheint nicht meine Sache zu sein, dem Schon-da-seienden etwas hinzuzufügen, also im bekannten Sinn schöpferisch zu sein, sondern eher, dem Schon-da-seienden möglichst vieles abzusehen und abzuwahrnehmen – entschuldigen Sie mal dieses Wort –, vielleicht mich in die Fugen, die Zwischenräume reinzuwursteln und die Fugen zu verbreitern, so dass man da reingucken kann und sehen, was es denn ist, was da fügt. Reines Erfinden ist nicht so meine Sache, vielleicht eher Finden oder Aufdecken von möglichen Ursprüngen, vom Gleichen im Unterschiedlichen, Zusammenhängen, Überschneidungen, von Deckungen, Symmetrien, Kongruenzen auf verschiedenen Ebenen, Vergleichbarem usw. Deshalb, weil das also ein bestimmter Realismus ist, weil ja auch jede Form, die ich zeichne, für jedermann leicht wiederzuerkennen ist. Da fackle ich nicht lange, hat Ludwig Gosewitz das Zeug mal Andrealismus genannt. Er sagte damit, dass man sich 'n bisschen drauf verlassen kann, dass man das, was da auf dem Papier ist, in der Welt wiederfinden kann, dass das da ist. Aber eben nicht auf Anhieb erkennbar, das Ungewohnte am Gewohnten vielleicht oder das Unbemerkte im Bemerkten.

Wahjudi: Was suchen dann die Zahlen darin? Die sind doch eher konkret?

Tippel: Bei Barbara Wien, meiner Ausstellerin und Verlegerin hier in Berlin – gar nicht nebenbei bemerkt die einzige, die sich noch mit meinem Kram und mit mir rumschlagen will – hab' ich einen Satz von Addi Koepcke vor kurzem kennengelernt, der lautet: „schon im Ansatz oder lass es uns sogar Idee nennen muss der Unterschied liegen". Der Satz stammt von 1964. Da saß ich noch auf der Schule. Später hab' ich dann eine Zeit lang die 13 Schuljahre von meinem Konsensalter als nicht zu gebrauchen einfach abgezogen – da war ich zu jung. Und weil dieses stetige, lineare Älterwerden immer langweiliger wird, auch wenn die Zeitempfindung sich im Lauf des Lebens verändert, laß' ich jetzt ein zweites Lebensalterkontinuum das hergebrachte begleiten, das Quersummenalter. Das sind dann wiederkehrende Neunerzyklen, die sich zum dekadischen System versetzt rückläufig verhalten, so dass man zwei Determinanten hat und bis ins Alter von 89 – die Jahre, in denen das Dezimalsystem seine Hoch-Zeiten feiert mal ausgenommen – in einem magischen Quadrat lebt; das macht die Sache lustiger. Da ist man zum Beispiel mit 48 gleichzeitig auch 3 – das ist doch spannend, vorausgesetzt man hat eine gewisse Vorstellung davon, was das Alter von 3 ausmacht, beispielsweise im Zusammenhang mit der Sprache, dem Zeichnen, dem Fragen... Denn die Sprache, die Wahrnehmung, die Handlungsmuster hier sind doch alles nur Verabredungen... so eine Art Konsens und im besten Fall Konspiration... Aber das ist ganz und gar nicht alles... Was auf anderen, unbenutzten Ebenen des großen konspirativen Feldes, sprich Kultur, liegt... die Skepsis, die Subversion als Version, die Mischungen von vitalen und geometrischen Ordnungen, der Widerspruch, das Andere, das Unwillige, das scheinbar und unscheinbar Unsinnige, auch das Zarte und Liebevolle, oder der Zeittrotz, der Normtrotz, der Schönheitstrotz, das Widerspenstige, auch das Sich-in-die-Büsche-schlagen ... diese Dinge können ein bisschen am Konsens fressen... In den Bereichen liegt ein ungeheuerlicher Reichtum...

Wahjudi: In den Zeichnungen lassen Sie auch immer wieder Worte erscheinen. In welches Verhältnis setzen Sie die Sprache zum Bild?

Tippel: Ach so, ja, Sie fragen, warum die Sprache, die Schrift in meinem Gefüge eine so wichtige, weil auffallende Rolle spielt, woher das Anagrammieren, Palindromieren, die Gleichwertigkeit von Schrift und Bild kommen. Da kann ich vielleicht sagen: Sie spielt gar keine wichtige Rolle, *das* ist Zeichnen. Die riesige Familie der Zeichen, also der Buchstaben, Wörter, Ziffern, Symbole, Interpunktionen, Noten, Formen usw. schreibt das ja eigentlich schon vor: Das gehört alles zusammen. Viele davon haben einen erstaunlich schlechten Ruf in der Kunst. Wir haben ja alles auf verschiedenste Weise und mit verschiedensten Systemen sozusagen schwerstens beschichtet: kein Tag ohne Datum, keine Sache ohne Namen, kaum ein Landstrich ohne Karte undsoweiterundsofort, und das heißt eben genauso: kein Tag ohne Karte, keine Sache ohne Datum, kein Landstrich ohne Namen usw. Die Interaktionen, die also in Hülle und Fülle da sind, aber niemandem nützen und deshalb in Ruhe geschehen, weil sie niemand wahrnimmt – das ist eine gute ruhige Sphäre, aus der die Sensationen nur so quillen.

Wahjudi: Können Sie ein Beispiel nennen?

Tippel: Ja, etwas Einfaches, eine 4 hat 4 Valenzen. Oder: Dreht man einen Violinschlüssel auf den Kopf, enthält er den Bassschlüssel. Oder: Wo findet sich diese scheinbar stilisierte Form des Herzens, bei schmusenden Katzen, bei balzenden Schwänen, bei kopulierenden Libellen und da gibt's sicher noch mehr Beispiele, die man im Lauf des Lebens sammeln kann. Derartige Sammlungen gibt's hier mehrere, die gehen über viele Jahre, weil die Fundstücke eben selten sind. Die Paradoxa oder das Phänomen der Großstadtlegasthenie kennt wohl jeder: Wenn man durch die Straßen geht, liest man, muss man alles mög- und unmögliche lesen – das ist irgendwann zu viel, eine Erschöpfungserscheinung, und man beginnt das Zu-Lesende so flüchtig zu lesen, dass dabei die glücklichsten Montagen rauskommen, zuweilen fast perfekte Anagramme, sowas wie: Der Gipfel der Fische, dank der Firma Osram. Sowas kann man sich nicht ausdenken, da muss man warten, bis es geschieht. Das sind solche infrastrukturellen Sammlungen, die laufen hier mit, wie die Fettadern im gestreiften Speck. Aus mir allein, scheint mir, kommt fast nichts, was mir das Zeichnen wert wäre. Aber wenn ich die Disposition einer Orgel irgendwo lese, dann kann ich da allerhand zeichnen. Oder Ampeln, mit denen ich fast mein ganzes Leben verbracht hab'. Oder ein „Apfelmännchen" in ein adäquates Birnenhündchen verwandeln. Oder wie auch immer, sowas kann ich. Aber wenn Sie mich jetzt fragen würden, warum ich nun grad' dieses Zeug mach', ich könnte darauf keine Antwort geben. Andere haben Antworten gegeben, weil's das ist, was sie am besten können, oder Teilantworten wie: „Da müssen Sie meinen Analytiker fragen". Aber jetzt sind Sie ja mein Analytiker, Sie stellen Fragen und ich antworte schwätzend drauflos, Sie werden dafür bezahlt, ich nicht... oder?

Wahjudi: Apropos. Wie steht es denn mit Ihrem Geld?

Tippel: Ach, wissen Sie, man sollte einen Ertrinkenden nicht fragen, ob es ihm im Wasser gefällt oder einen Bettler nur zum Spaß, ob er rausgeben kann.

Wahjudi: Und was planen Sie jetzt?

Tippel: Die Zeit der Stockung zu überbrücken und nicht in den mehr als 1000 Zeichnungen, die sich in den vergangenen über 20 Jahren hier angesammelt haben, zu ersaufen und all dem anderen Kram. Und rauszukriegen, was Marthe Schwerdtlein in ihrem Fläschchen hatte, weil mir neuerdings andauernd der Kreislauf zusammenbricht, Schnaps, Lavendel oder was? Vielleicht kann mir das 'n Goetheforscher mal sagen, muss ja gut gewesen sein.

Wahjudi: Was für eine Form einer Ausstellung könnten Sie sich jetzt vorstellen?

Tippel: Platz genug für 800 Zeichnungen und noch 'n bisschen mehr, aber für Draußen hab' ich keine Begabung, deshalb hab' ich da auch nicht so viel anzugeben. Ich hab' ja auch jahrelang gedacht, dass ich Null Ehrgeiz hab', bis ich vor ein paar Jahren anfing, Ehrgeizträume zu kriegen. Wollen Sie einen hören?

Wahjudi: Ja klar.

Wir danken Claudia Wahjudi für die Veröffentlichungserlaubnis.