Der Neid der Götter.
Andrea Tippel im Gespräch.
Erstveröffentlicht in: Lerchenfeld, Nr.03/2009 (Dezember), hrsg. von der Hochschule für bildende Künste, Hamburg, S. 20–23
Anlässlich ihrer Ausstellung „Andrealismus" 2009 in der Hamburger Galerie Walk of Fame führten Hans-Joachim Lenger, Professor für Philosophie, Melike Bilir, Galeristin, und der Künstler Oliver Ross ein Gespräch mit Andrea Tippel.
Hans-Joachim Lenger: Ich beginne mit einer recht trivialen Frage, nämlich der, was Dich veranlasst hat, Dich dem Medium der Zeichnung auszusetzen; die Zeichnung steht ja zweifellos im Mittelpunkt Deiner künstlerischen Arbeit.
Andrea Tippel: Wenn Du unterstellen solltest, es habe sich dabei um eine bewusste Entscheidung gehandelt – die ist es nicht gewesen. Ich gehöre zu den Leuten, die nie aufgehört haben zu zeichnen. Alle Kinder zeichnen. Und ich habe einfach weitergezeichnet. Trotzdem und zugleich musste ich ja „etwas werden". Die Eltern, die Schule, die ganze Umgebung verlangte das. Folglich habe ich verschiedene Sachen ausprobiert: Schauspielerei, Philosophie, Psychologie. Aber sie haben sich nicht bewährt und um "etwas zu werden" kam meine Zeichnerei natürlich nicht in Frage. Als ich merkte, dass ich deshalb überhaupt nichts „werden" konnte, musste jemand kommen, der mich fragte: Was willst Du eigentlich werden? Bist Du nicht schon etwas? Zeichnerin? Das war ein sehr wichtiger Moment.
Lenger: Du stelltest fest, immer schon Zeichnerin gewesen zu sein.
Kombinatorik
Tippel: Sagen wir: Ich wurde ganz märchenhaft von einem Prinzen wach geküsst. (lacht) Wieso also hätte ich das Medium wechseln sollen? Medienwechsel finden immer nur in „Lücken" statt. Doch wenn man keine solchen „Lücken" hat ...? Im Übrigen ist das Zeichnen unglaublich ökonomisch. Papiere sind flach, die kann man in jede Schublade legen; geradezu optimal. Außerdem stellt sich heraus, dass man mit der Zeichnerei Sachen machen kann, die sich nicht festlegen müssen. Sachen, die man als Fragen aufs Papier bringen kann. Malerei ist in der Regel ja „Antwort". Aber ich habe keine Antworten gefunden.
Lenger: Ist das nur Dein Problem? Oder lässt sich das verallgemeinern? Haben wir es generell mit einer Zeit der Fragen, weniger der Antworten zu tun?
Tippel: Wir haben uns wohl noch nie in einer Zeit der Antworten befunden. Es gibt zwar unendlich viel Malerei und deshalb auch unendlich viele Antworten. Aber Antworten sind ephemer. Fragen sind es nicht. Derart lassen sich die Medien dann unterscheiden, und ich bleibe bei der Zeichnerei. Das ist das Feld, in dem ich mich bewege, die Lust, die ich empfinde. Bevor ich abkratze, will ich nämlich wissen, was hier los ist, mit uns und um uns herum. Natürlich, wenn man irgendetwas macht, setzt man der Welt immer etwas hinzu. Auch da ist die Zeichnerei so fein raus. Sie macht kleine Sachen, die man auch wieder wegradieren kann. Jedenfalls veranstaltet sie keine Materialschlacht. Nur die Schriftsteller haben es vielleicht noch ein bisschen besser. Deren Repertoire ist noch kleiner, beengter, trotzdem sind die Gebäude, die sie errichten, grandios. Na gut, ich schreib' ja auch. Aber nur über Sprache und Schrift sind die Dinge, die ich Lust habe anzuschauen, nicht zu erreichen. Alles, was ich anschauen möchte, hat bildlichen und sogar farblichen Charakter. Das Gebilde der Malerei aber hat kathedralen Charakter, und ich bin nicht gläubig.
Karten
Lenger: Wie bist Du zu diesem Ort, zu dieser Galerie gekommen?
Tippel: Vielleicht erzählt das besser Melike.
Melike Bilir: Ich lernte Andrea gemeinsam mit Freunden in einer Kneipe kennen. Zufällig hatte ich den Raumplan der Galerie dabei, als Andrea vorschlug, uns allen die Karten zu legen. Sie fragte mich, ob sie dazu den Plan ausleihen könnte; der wurde dann zum Spielplan, auf dem sich die Karten verteilten.
Tippel: Meine Eltern waren schließlich Architekten ...
Bilir: Immerhin traute ich mich nach diesem Abend, Andrea zu fragen, ob sie bei mir ausstellen wollte. Den Plan der Räume kenne sie ja schon. Und ihre Antwort war überaus positiv ...
Tippel: Normalerweise frage ich bei solchen Gelegenheiten nach. Aber in diesem Fall, bei diesen zwei starken Zeichen: den Karten und dem Plan (der Galerie, auf dem sie sich verteilt hatten), von dem ich nicht wusste, dass er der Plan einer Galerie war, ich kannte Melike nicht, gab es nur ein klares „Ja". Wenn ungewöhnliche Gründe vorliegen, werden auch die Antworten und die Dinge ungewöhnlich, die man tut.
Lenger: Die Karten, die Du legst, steigen schließlich aus einer Kombinatorik von Elementen auf, aus einem bestimmten Zeichenrepertoire oder symbolischen Universum. Nicht anders arbeiten ja digitale Rechenmaschinen, auch wenn sie es einfacher haben, weil sie nur zwei Zustände kennen: die Null und die Eins. Was Du mit Karten machst, hat mit Fitzliputzli also nichts zu tun, sondern mit strengen Symboloperationen ...
Tippel: ... die im Übrigen so komplex sind, dass sie sogar einen bestimmten Zauber freisetzen.
Lenger: Korrespondiert das mit dem, was Du vorhin über Beziehungen von Bild und Sprache angedeutet hast? Über die Kombinatorik von Elementen, die wie von einem Zufallsgenerator ausgeschüttet und in Konfigurationen gelesen werden? Könnte sie mit Deiner Leidenschaft für Anagramme zu tun haben?
Babylon
Tippel: Natürlich, in derselben Weise, in der ich da ebenso Elemente kombiniere. Ich bin nämlich der Ansicht, dass alle Disziplinen letztlich dieselben Geschichten erzählen, wenn auch auf verschiedene Weisen. Leonardo da Vinci wusste davon noch alles. Und er wusste auch, dass die Zeichnung es ist, die die verschiedenen Disziplinen sich untereinander verständigen lässt. Wenn ein theoretischer Physiker seine Formeln niederschreibt, verstehe ich zwar nichts. Aber in den Ergebnissen, etwa in der Superposition der Quantenphysik, verstehe ich plötzlich wieder etwas. Plötzlich gibt es da so etwas wie ein Synonym dafür, auch in meiner Sprache.
Lenger: Das Selbe taucht aus einer Wiederholung auf, doch deshalb stets als Anderes ...
Tippel: Ja. Zuerst kehrt da natürlich ein gewisses mystisches Element wieder. Alle Disziplinen wiederholen lediglich elementare Strukturen; wobei es vielleicht nicht einmal „Strukturen" sind, denn „sie selbst" treten ja nicht hervor. Aber die theoretische Physik macht letztlich das- selbe wie ich, nur auf eine andere Weise, in einer anderen Sprache, einer anderen Logik und einem anderen Zeichensystem. Am Ende aber gibt es da etwas, was ich wieder verstehe; und immer kommt dann die Karte dabei ins Spiel.
Lenger: Indem sie sich verschiebt?
Tippel: Naja, zuerst fällt sie. Als Schrödinger seine berühmte Katze einführte, spielte er eben gern mit Leben und Tod. Andere Leute haben sich da lieber zurückgehalten und mit Karten gespielt. Wenn eine Karte aufrecht steht, fällt sie in unserer physikalischen Welt entweder nach links oder nach rechts; in der Quantenphysik aber ist das anders. Da fällt sie zu beiden Seiten gleichzeitig. Also gut; nicht nur, dass dies den alten Menschheitstraum aufruft, an zwei Orten gleichzeitig zu sein – da strömt außerdem Mystik herein, und zwar so heftig, dass man sich fragt: Was ist denn jetzt los? Theoretische Physik und Mystik schneiden sich in der Superposition? Das allerdings interessiert mich dann außerordentlich. Ich freue mich also sehr darauf, demnächst die Mythologica von Lévi-Strauss zu lesen; und ebenso, mich in das wieder aufgefundene Manuskript über Naturphilosophie von Paul Feyerabend zu vertiefen. Sie alle sprechen nämlich über dasselbe, wenn auch auf verschiedene Weisen, gleichsam in babylonischer Vielfalt. Alle Welt beruft sich ja auf Kopernikus, auf Darwin und Freud, die uns Menschen eine tiefe „narzisstische Kränkung" beigebracht hätten. Ich dagegen halte Babylon für viel wichtiger: Die Tatsache, dass wir uns nicht verstehen und alles Verstehen lediglich aus einer Wiederholung des Nicht-Verstehens auftauchen lassen.
Lenger: Du spielst auf die Hybris an, sich dabei zu überheben, einen gewissen Turm zu errichten?
Tippel: Naja, wir existieren doch nur, weil die Götter neidisch waren. Das kann man bei Aristophanes doch in wünschenswerter Klarheit nachlesen. Alle anderen Geschichten dagegen sind doch, sagen wir: etwas romantisch, oder? Die aristophanische Definition dagegen ist geometrisch im Wortsinn; sie beschreibt das Maß der Erde, auf der wir sind. Wir sind Existenzen, die aus dem Neid der Götter entstanden sind. Und etwas Besseres kann man sich gar nicht vorstellen. Dagegen haben wir nämlich anzukämpfen, was wir ja auch tun...
Zeitlichkeit
Lenger: Du hast vorhin den Terminus der Gleichzeitigkeit eingeführt. Und nachdem ich das Archiv Deiner Arbeiten in Augenschein genommen habe, das Du in dieser Ausstellung geöffnet hast, behaupte ich: Die Frage der Zeit kehrt bei Dir immer wieder, eine Befragung der Zeitlichkeit, ein Insistieren auf der Zeitlichkeit. Würdest Du dieser Behauptung zustimmen? Beispielsweise denke ich an die Decke, auf der Du gezeichnet oder gekritzelt hast, während Du telefoniertest ...
Tippel: Über eineinhalb Jahre, ja.
Lenger: ...wobei Du diese Decke ja nie als Ganzes vor Augen gehabt haben wirst, sondern stets in kleinen, begrenzten Ausschnitten. Oder ich denke an die Serie von Zeichnungen, die ganz unmittelbar die Frage der Zeit aufwerfen: Erst 365 Zeichnungen, die an einem Tag entstanden sind, dann 24 Zeichnungen, die jeweils in einer Stunde entstanden, 60 Zeichnungen in jeweils einer Minute und 60 jeweils in einer Sekunde ... und das dann als Serie geschaltet.
Tippel: Ich kann darauf eigentlich nur antworten, indem ich Dir für diesen Hinweis danke. Offenbar bin ich ein Zeit-Mensch oder Zeit-Tier so sehr, dass ich das gar nicht reflektiere. Die Zeit ist das, woraus ich „gemacht" bin. Worauf also sollte ich antworten, wenn nicht darauf, aus Zeit „gemacht" worden zu sein? Aber, wie gesagt, da bin ich gnadenlos naiv. Ich habe keine Ahnung, womit ich es zu tun habe. Es ist vielmehr die größte „Natürlichkeit"... Wenn Du mich also gerade auf etwas aufmerksam machst, was mir bislang überhaupt nicht klar war, weil es mir in meiner Naivität so selbstverständlich war, eine Zeit-Existenz zu sein... Was also kann ich darauf noch antworten?
Oliver Ross: Du hast irgendwann gesagt, für bestimmte Zeichnungen keine Zeit zu haben. Seitdem Du HFBK-Professorin bist, klappt das nicht mehr. Seither musst Du Zeichnungen eher konstruieren. Die Zeit bindet, gerade in ihrer instituierten Form. Sie wird nämlich vorgeschrieben, man muss seine Programme anpassen ...
Tippel: Kein Wunder, dass man seine Fragen – ob bewusst oder unbewusst – auf Probleme der Zeit konzentriert. Aber selbst bei der Zeichnung zur „Idiochronie" ist mir noch nicht aufgefallen, in welchem Maß ich dabei mit der Zeit zu tun habe. So naiv bin ich in sie verwickelt. Wir haben ja schon darüber gesprochen: Seitdem ich an der Hochschule bin, hat sich die Zeit tief- greifend verändert ...
Lenger: Zumal sie hier neuerdings in Begriffen von „workloads" definiert wird ...
Tippel: ... weshalb ich jedoch auch dankbar dafür bin, dass meine Zeit hermetisch genug ist, solche Bestimmungen nicht in sich eindringen zu lassen. Doch um auf Deinen Hinweis zurückzukommen, wie sehr meine Sache mit Fragen der Zeit zu tun hat – nachdem ich Dir dafür gedankt habe, musst Du mir auch den Weg aus dem Labyrinth weisen, in das Du mich damit versetzt hast.
Schnitzer
Lenger: Im Gegenteil. Du bist es, die uns den Ausweg weisen müsste. Wohl nicht umsonst hast Du ja vorhin auf Leonardo da Vinci verwiesen und darauf angespielt, dass die „Moderne" nicht zuletzt aus Operationen hervorgeht, die rigoros zwischen wissenschaftlich und künstlerisch zugelassenen oder verfügbaren Zeichen unterscheiden wollen. Die strikte Alphanumerik des Wissens, die strikte Graphematik des Künstlerischen, Einschnitte also, die sich in der Hochschule bis in jene Dummheiten hinein fortsetzen, die zwischen „Theorie" und „Praxis" unterscheiden wollen – das sind Oppositionen, die es bei da Vinci in dieser Form ja noch nicht gibt. Zugleich aber verstärken sich aber auch die Anzeichen, dass solche Oppositionen in einer sich selbst problematisch gewordenen „Moderne" fragwürdig zu werden beginnen. Ganze Wissensdispositive werden dabei Erschütterungen ausgesetzt.
Tippel: In jedem Fall.
Lenger: Aber was soll dann die Bibliothek, die Du hier ausgestellt hast, und was Dein Rätselwort einer „philo-ars"? Welches Wissen kündigt sich da an?
Tippel: (lacht) Bevor ich dazu was sage, brauche ich noch einen Schluck Sekt ... Klar, alles, was ich tue, hat mit dem zu tun, was wir „Kunst" nennen. Man könnte sie als ein Denken beschreiben, das nichts ausschließt und keine Gesetze akzeptiert, die bereits da sind. „Kunst" muss vielmehr untersuchen, was die Dinge ohne ihr Gewand sein könnten. Es ginge um eine Art Nacktkörperkultur der Welt und insofern um einen abgrundtiefen Anarchismus. Der nämlich stößt in Felder vor, in denen es keine Vorgabe gibt. Und weil ich mal Philosophie studiert habe und außerdem mit den Wörtern zu tun habe, interessieren mich auch die Umbrüche in den Etymologien ganz außerordentlich, mit denen wir zu tun haben. Ebenso großen Spaß macht mir die „farbige Antike". Inzwischen weiß man, dass die Vorstellung vom weißen Marmor, der unseren Klassizismus geprägt hat, völlig falsch ist, weil der Marmor seinerzeit kunterbunt war. Und weil man das alles für Dreck oder Verunreinigung hielt, wurden die letzten Reste heruntergekratzt, bis der Marmor weiß und „klassizistisch" geworden war. Oder Mykene, 2000 Jahre vor Christus: Die haben auf Tontafeln geschrieben und wussten, dass man brennen muss, was man erhalten will; während das, was keine große Bedeutung hat, Einkaufszettel also oder kurze, tagesaktuelle Notizen, nicht gebrannt werden brauchten. Nun sind die mykenischen Städte aber in Feuer untergegangen mit dem Ergebnis, dass die für die Ewigkeit gebrannten Tontafeln zerfielen, während die unbedeutenden Notizen für die Ewigkeit gebrannt wurden. Das sind Schnitzer der Geschichte, die mich ebenso faszinieren wie erfreuen. Was immer man nämlich zu wissen meint, trägt ephemeren Charakter. Es kommt einher ohne Netz und doppelten Boden. Und darin besteht doch, was wir in der „Kunst" machen.
Transpositionen
Ross: Gibt es deshalb so viel Verwahr-Losung im Wortsinn? Doch ebenso sehr die vielen Mechanismen einer Stabilisierung, einer Sicherung und Aufrechterhaltung...
Lenger: Umso weniger lasse ich locker. Vor dem Hintergrund der Verwahrlosung und des Nicht-Statuarischen frage ich nach Deiner „Library". Denn die Bibliothek legt ja nahe, das Wissen gesammelt und geborgen zu haben. Was in den Regalen nicht auftaucht, gehört nicht zum Kompendium ...
Tippel: Ich frage mich, in welchem Zustand sich die Kunst befindet. Sie hat ja eine gewaltige Geschichte durchlaufen, und man kann untersuchen, wie es ihr zu diesem oder jenem Zeitpunkt ging. Wie aber geht es ihr jetzt? In welchem Zustand ist sie? Nun, der Begriff der Philosophie setzt sich aus der „philia" zusammen, die ich gern mit „Liebe zu..." übersetze. Dies meinte in der vorchristlichen Situation, dass das, was man liebt, „außerhalb" sein muss. Es ist eine Art „Gegenüber". Auch der Rücken eines Phänomens ist eine Art „Gegenüber". Christlich funktioniert das nicht mehr ohne weiteres; da sollen wir den Nächsten ja lieben wie uns selbst ...
Lenger: In einer Art Spiegelstadium ...
Tippel: Ja, in einer Endlos-Reflexion. Umso mehr versuche ich, mir die Dinge als ein Außerhalb anzuschauen, das ich gleichwohl liebe. Es muss also anderswo sein als ich. Auch die „sophia", die Weisheit, muss außerhalb meiner sein. Sie ist abwesend. Und das gibt eine eigenartige Trennung, mit der wir seither auch kein Problem hatten. Aber deshalb haben wir auch keinen Zugang zur „sophia" mehr. Keine Dimension kann uns noch zu ihr führen, in sie einführen. Und dies hat meine Frage hervorgebracht, ob wir vielleicht mit einer Situation zu tun haben, in der das gleiche auf der Ebene der Kunst stattfindet. Es gibt so viele Vorgänge, die etwas außerhalb platzieren und es uns gegenüberstellen, ganz so, wie es vor 2400 Jahren mit der Philosophie geschah. Die Verschriftlichung hat dabei natürlich eine ganz entscheidende Rolle gespielt, wie ich bei Giorgio Colli gelernt habe. Mit der „Library" versuche ich also... ja, was eigentlich? Ich gebe meine Behauptung weiter. Da ich keine Philosophin und keine Schriftstellerin bin, versuche ich das mit meinen Mitteln in die Welt zu setzen. Und weil die „Library" von zwölf Din-A-3-Zeichnungen ausgeht, ist das ein weiterer Zweig meiner Zeichnerei. Sie kommt also gar nicht aus einem anderen Bereich. Zwar geht es um Reflexion, um theoretische Betrachtungen und vieles mehr; doch darum geht es beim Zeichnen ja nicht weniger. Ich bin kein delikater Mensch. Ich schätze die Welt in ihrem vollen Umfang, sinnlich, gedanklich, in jeder Hinsicht. Gut, die Philosophen schreiben Bücher. Und sollte ich eine Analogie herstellen, so dachte ich mir, dann am besten, indem ich dasselbe Medium bediene. Wie aber könnte ich Bücher schreiben? Ich brächte kein einziges theoretisches Werk über meine These fertig, denn das ist nicht mein Metier. Allerdings kann ich 2000 Titel niederschreiben, die dieses Phänomen umkreisen und konturieren, aufstochern und konterkarieren. Das kann ich. Also dachte ich mir, ich versuche diese These der „philo-ars" in Bilder zu übersetzen. Und so ist diese „Library" entstanden.
Anarchismus
Lenger: Von Paul Virilio gibt es ein Stichwort, das zwar einem anderem Zusammenhang angehört, mir aber dazu einfällt: die „Universität des Desasters". Nicht also das Desaster der Universität, von der alle Welt spricht, sondern die Universität des Desasters.
Tippel: Wunderbar. Wenn ich diesen Titel benutzen würde, hätte ich mich jedoch bereits als eine geoutet, die das Desaster schätzt, liebt und verehrt. Was aber nicht der Fall ist.
Lenger: Worin besteht der Unterschied zwischen dem Desaster und dem, was Du vorhin den „abgrundtiefen Anarchismus" nanntest?
Tippel: Dieser Anarchismus ist in keiner Weise von einer destruktiven Konnotation kontaminiert. Das Desaster dagegen besteht in einer extremen Verwirrung, einer zerstörerischen Konfusion. Darin liegt der Unterschied ums Ganze.
Lenger: Könnte man also nicht nur in Hinblick auf die „Library", sondern auf Deine künstlerische Arbeit insgesamt sagen, sie bestünde darin, das Desaster in einem abgrundtiefen Anarchismus zu durchqueren?
Tippel: (lacht) Ich danke Dir für Deine Geduld. Dafür, dass Du mich erst jetzt in diese Falle lockst ... Was soll ich dazu sagen? Ich möchte einfach nur wissen, was hier los ist. Nur deswegen mache ich all die Sachen.
Wir danken dem Nachlass Hans-Joachim Lenger für die Veröffentlichungserlaubnis.